Verlassenheit und Vollendung

Jesus stirbt. Er schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Er, der sich ein Leben lang wie kein Anderer auf Gott verlassen hat, fühlt sich von Gott verlassen. Es drängt sich die Frage auf: Hat sich Gott von den Menschen zurückgezogen? Diese Annahme begegnet uns etwa bei Dietrich Bonhoeffer. So schreibt er in einem Brief vom 16. Juli 1944: „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt.“ Weil wir Ihn ablehnen, reagiert Er mit Rückzug.

Dann aber ruft Jesus: „Es ist vollbracht.“ Das klingt schon anders. Die Verzweiflung, die sich in Psalm 22 ausdrückt weicht einem fast schon triumphalen Bewusstsein der Vollendung. Aus der Verlassenheit des Menschen wird die Gelassenheit Gottes, der Sein Erlösungswerk besiegelt. Der Theologe Heinrich Fries sagt zu dieser Ambivalenz: „Das Kreuz ist das Zeichen all dessen, was unser Leben durchkreuzt; was in Verlassenheit, Leiden und Tod gipfelt. Es ist nicht der Ort der Abwesenheit, sondern der Anwesenheit Gottes.“

Abwesenheit und Anwesenheit zugleich, Verlassenheit und Vollendung berühren sich, Leid und Heil, Tod und Leben. In dem Moment, in dem der Herr Seinen Geist aufgibt, beginnt das Programm, das später als Christentum bekannt werden sollte: der Vorhang des Tempels zerreißt, der Hauptmann bekennt sich. Juden und Heiden sind betroffen, sakrale und säkulare Systeme. Nichts hält stand, als Gott den Neuen Bund besiegelt – kein äußeres Gebäude aus Stein, kein inneres aus Gedanken.

Verlassenheit und Vollendung – beides fällt im Tod zusammen: Das Verlassen dieser Welt und die Vollendung in Gott. Jesus Christus vollendet mit seinem Tod am Kreuz nicht nur sich, Er vollbringt mehr: Er vollendet die Welt, die Er verlässt. Dies geschieht, indem Gott selbst in und durch Christus seine Ewigkeit verlässt, Seine himmlische Unantastbarkeit, um aus Liebe menschliches Leid bis zur Konsequenz des Todes nachzufühlen, um uns in Sterben und Tod ganz nah zu sein. Und auch in den tiefsten Abgründen des Lebens, in denen wir Verlassenheit spüren.

Gott ist in Jesus Christus bei uns, wenn wir leiden, wenn wir sterben. Das ist gewiss. So gibt es kein sinnloses Leid und keinen sinnlosen Tod, weil alles im Kreuz aufgehoben ist, im Leid der Gottverlassenheit, das größer ist als jedes andere Leid, und in der Vollendung des Lebens, die bedeutender ist als jede andere Vollendung, weil sie vollbringt, dass der Tod zum Tor wird – aufgestoßen zu neuem, ewigem Leben.

(Josef Bordat)