Christentum und Freiheit

In einem Kommentar zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Suizidbeihilfe vom 26. Februar 2020 hatte ich behauptet: „Die Abschaffung der Sklaverei etwa konnte nur gelingen, weil sich Christen vor dem Hintergrund des christlichen Menschenbildes für die Freiheit des Menschen einsetzten“. Dass diese These begründungspflichtig sei, darauf wies ein Leser des Kommentars zu Recht hin. Ich hole die Begründung gerne nach, an Ort und Stelle bereits geschehen, aber auch hier – etwas ausführlicher noch und mit weiterführenden Verweisen – in meinem Blog, in dem der Kommentar zuerst erschien.

Also: „Die Abschaffung der Sklaverei etwa konnte nur gelingen, weil sich Christen vor dem Hintergrund des christlichen Menschenbildes für die Freiheit des Menschen einsetzten“.

1. Die Befreiung von der innerlichen Sklaverei der Sünde durch die Wahrheit (im christlichen Glauben: durch Jesus Christus) und die Abschaffung der Sklaverei als äußerliches Phänomen des Rechts- und Wirtschaftssystems gehören ganz eng zusammen. Das ist systematisch einsichtig: Wer die Sklaverei abschaffen will, muss zunächst von der Sünde befreien, die die Sklavenhalter gefangen hält. Sie sind gebunden an Gier und Geld, an Markt und Macht. Wenn diese Fesseln erst mal gelöst sind, kann ein Umdenken beginnen, das zur Ächtung von Sklaverei führt. Der Zusammenhang lässt sich aber auch historisch nachweisen.

Arnold Angenendt erinnert an die Rolle der „englischen und amerikanischen Dissenters, die ihre Länder zunächst für ein Verbot des Sklavenhandels und dann auch des Sklavenbesitzes zu mobilisieren vermochten“ (Angenendt: Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, S. 224). Sie beriefen sich nicht auf politische Revolutionen, sondern auf die Revolution schlechthin: „den durch Christi Sühneblut bewirkten Loskauf“ (ebd.), die Erlösung des Menschen, die zur Befreiung aller Menschen motiviert.

2. Die Aufklärung entwickelte zur Sklavenfrage „keine eigenen Positionen, sondern übernahm allmählich die Positionen der Quäker und Evangelikalen“ (Egon Flaig, zit. nach Angenendt: Toleranz und Gewalt, S. 222 f.). Ansonsten kann man in der Sklavenfrage mit Delacampagne von der „Gleichgültigkeit der Humanisten“ und dem „Schweigen der Philosophen“ sprechen, die sich höchstens, so Robin Blackburn, zu Wort meldeten, um die religiösen Begründungen der Sklaverei durch pseudowissenschaftliche Versuche „rassischer Anthropologie“ zu ersetzen (Angenendt: Toleranz und Gewalt, S. 223). Im aufgeklärten 18. Jahrhundert dachten „nur wenige“ der führenden Denker und Lenker „an eine restlose Abschaffung der Sklaverei“ (Barbara Stolberg-Rillinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung. Stuttgart 2000, S. 276). Wie einige herausragende Denker über „die Anderen“ dachten, habe ich anlässlich des 309. Geburtstags von David Hume erläutert.

Also: Es waren damals nicht die vielgerühmten Denker der Aufklärung, sondern einfache, fromme Christen, die den Impuls gaben, die Sklaven zu befreien. Die „einzig im Christentum eingeleitete Abschaffung der Sklaverei“ (nur im Christentum sei sie überhaupt zum „religiösen Problem“ geworden) verdanke sich , so Angenendt mit McKivigan, „mehr christlichen Prinzipien als christlichen Institutionen“ (Angenendt: Toleranz und Gewalt, S. 226). Denn: Während die Evangelikalen in den USA die befreiende Botschaft des Christentums aufnahmen, um sie politisch umzusetzen, blieben die Päpste in der Sklavenfrage lange bei ihrer moraltheologischen Zurückhaltung und sprachen sich erst im 19. Jahrhundert entschieden gegen die Sklaverei aus, als die nordamerikanischen Christen längst die Pionierarbeit geleistet hatten.

3. Das heißt: Nur im Christentum wird Sklaverei überhaupt zum moralischen Problem, einzig die Christenheit leitete folgerichtig ihre Abschaffung ein. Während die großen Philosophen der Aufklärung die Sklaverei noch im späten 18. Jahrhundert mit rassistischen Argumenten rechtfertigten, hatte das Wirken von Christen in Nordamerika längst zur Ächtung von Sklavenhandel und Sklavenbesitz beigetragen. Sie setzten sich für die Würde und Freiheit der Sklaven ein, weil sie in der christlichen Botschaft von der Erlösung des Menschen durch den Sühnetod Christi das Motiv für die Befreiung aller Menschen entdeckten. Die Christenheit sorgte damals ganz konkret dafür, dass es Freiheit für alle Menschen gibt, weil alle Menschen als Ebenbilder Gottes die gleiche Würde haben – ungeachtet ihrer Herkunft und Hautfarbe, weil alle Menschen von Christus „zur Freiheit befreit“ wurden (vgl. Gal 5, 1).

Das Ende der Sklaverei hängt also eher mit christlichen Prinzipien als mit kirchlichen Institutionen zusammen (oder gar mit der Aufklärungsphilosophie – die hat sich in dem Kontext nun wirklich nicht mit Ruhm bekleckert). Tatsächlich kann man den Freiheitsdiskurs von zwei Seiten betrachten – einerseits in einer langfristigen ideengeschichtlichen Perspektive, andererseits in einer kurzfristigen rechtshistorischen Sicht; diesen Gedanken entfaltet Hans Joas in Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Langfristig war die Triebkraft des Christentums entscheidend, damit die Idee der Freiheit aus dem Gedanken der geschöpflichen Würde des Menschen und als Ausdruck der besonderen Stellung, die der menschlichen Person durch die befreiende Botschaft des Evangeliums Jesu Christi zukommt, Gestalt annehmen konnte. Kurzfristig betrachtet hat die Kirche bei der rechtsverbindlichen Umsetzung von Freiheitsrechten im 19. Jahrhundert gebremst.

4. Man kann es vielleicht so zusammenfassen: Ohne die Institution Kirche als politisch wirksamer Machtfaktor, als weltliche Repräsentation der Christenheit wäre die Idee der politischen Freiheit möglicherweise früher und flächendeckender umgesetzt worden, ohne Christentum hingegen wäre sie mit Sicherheit gar nicht erst entstanden. Diese Differenz zu machen – zwischen Leben und Lehre – ist leider nötig. Christen sind Menschen. Sie sind insoweit nicht besser als Nicht-Christen. Sie haben es aber besser, weil sie im Christentum eine Orientierung vorfinden, auf die sie im Glauben immer wieder verwiesen werden. In jedem Gottesdienst, in jedem Gebet. Der Ritus ist liturgisch geprägt vom Bekenntnis der Schuld, der Bereitschaft zur Vergebung, der Chance zur Umkehr, der Kraft des Neubeginns und der Hoffnung auf Heil. Das stärkt und befreit – Voraussetzungen dafür, auch Anderen Mut zu machen und Freiheit zu ermöglichen.

(Josef Bordat)