Gelassenheit, die zu Gott führt. Aspekte der Mystik Meister Eckharts

Manuskript eines Vortrags bei der Tagung „Mystik – zwischen Theologie und Lebenserfahrung“ am 6. Juli 2019 im Bernhard Lichtenberg Haus, Erzbistum Berlin.

Ich möchte mich bei der Betrachtung der Mystik Meister Eckharts tatsächlich auf den Schlüsselbegriff der Gelassenheit fokussieren. Doch zunächst muss ich etwas zum Begriff der Mystik im Zusammenhang mit Meister Eckhart sagen. Nach den Arbeiten Kurt Flaschs kann man nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen, wenn es um die Mystik Meister Eckharts geht. Dann muss ich ein paar Worte zur Biographie Meister Eckharts sagen, ferner sein Seelenkonzept kurz vorstellen, um dann endlich zur Gelassenheit als Weg zu Gott zu kommen. Ich hoffe, es gelingt mir in 30 Minuten.

Mystik oder Philosophie – Was ist das Problem?

Die Texte des hochmittelalterlichen Dominikanerpaters Eckhart von Hochheim erfreuen sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der religiösen Praxis neuerlicher Beliebtheit und in der philosophischen Forschung ungebrochen großer Beachtung. Jemand, der in dieser Forschung tätig ist und jene Praxis ablehnt, ist Kurt Flasch. Flasch ist einer der bedeutendsten deutschen Mediävisten, ausgewiesen durch zahlreiche Publikationen zur mittelalterlichen Philosophie, die z. T. den Status von Standardwerken erreicht haben. An seinem 800-Seiten-Opus „Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli“ (1986) kommt kein Philosophie-Student vorbei. Sein Forschungsinteresse richtete sich dabei auch und in den letzten Jahren insbesondere auf Meister Eckhart. Und hier gehen nun die Meinungen bezüglich des flasch’schen Schaffens auseinander, verfolgt der Philosoph doch seit über drei Jahrzehnten, seit der Eckharttagung auf Kloster Engelberg (1984), nachdrücklich ein Ziel: Meister Eckhart, der vielen als Hauptvertreter der „Deutschen Mystik“ gilt, „aus dem mystischen Strom zu retten“. So in der zweiten Hälfte der 1980er mit programmatischen Aufsätzen („Meister Eckhart. Versuch, ihn aus dem mystischen Strom zu retten“, „Meister Eckhart und die deutsche Mystik. Zur Kritik eines historiographischen Schemas“, beide 1988), so zuletzt 2006 mit der Monographie Meister Eckhart. Die Geburt der „Deutschen Mystik“ aus dem Geist der arabischen Philosophie; dazwischen immer wieder philologisch aufwändige Projekte voller Pathos für den „anderen“ Eckhart, den Philosophen, den Exegeten. Damit arbeitet Flasch kräftig gegen die Popularisierung Eckharts, die in den letzten Jahrzehnten zunehmend voranschreitet. Die „Mystik“ des Meisters wird dabei nicht nur von Anhängern der christlichen Spiritualität, sondern mittlerweile auch von marktfähigeren esoterischen Strömungen bis hin zum „okzidentalen Buddhismus“ aufgenommen. Das kann man durchaus kritisch sehen, ohne gleich den Mystiker Eckhart aufzugeben.

Mystik oder Philosophie – für mich eine akademische Differenzierung, die am eigentlichen Thema vorbeiführt. Dass jemand wie Kurt Flasch, der nach eigenem Bekunden kein Christ mehr sein kann, hier so ein Fass aufmacht, um Eckhart der religiösen Betrachtung gleichsam zu entziehen, das ist für mich unerheblich. Ich erwähne es nur, weil das bei Meister Eckhart neuerdings immer problematisiert wird.

Wer war Meister Eckhart?

Meister Eckhart wird um 1260 als Sohn des Ritters Eckhart von Hohenheim geboren. Sein Leben ist geprägt von Gott und der Welt, denn die Aufgaben des früh, vermutlich um 1275 in den Predigerorden eingetretenen Eckhart, bestanden nicht nur in der Kontemplation, sondern auch in Forschung, Lehre und Organisation bei den Dominikaner. Von 1277 bis 1289 Studium, auch bei Albertus Magnus. Anschließend Priesterweihe. Um 1290 geht er als Magister nach Paris. 1294 wird er Prior des Erfurter Dominikanerklosters, in dieser Zeit entstehen die Reden der Unterweisung. 1302 lehrt er wieder in Paris. 1303-1310 übernimmt er die Leitung der neugebildeten Ordensprovinz Saxonia. 1311-1313 folgt ein zweites Magisterium in Paris, eine Auszeichnung, die zuvor nur Thomas von Aquin erfahren hatte. 1314 wird er Generalvikar des Dominikanerklosters in Straßburg, aus dieser Zeit stammt ein Großteil seiner „Deutschen Predigten“. 1322 übernimmt Meister Eckhart die Leitung seiner alten Ausbildungsstätte, des Studium generale in Köln. Dort wird er 1325 durch Mitbrüder beim Erzbischof Heinrich II. von Virneburg wegen angeblich häretischer Glaubensaussagen denunziert. Eine Liste mit zunächst 49 Sätzen wird 1326 nach Überprüfung auf 28 reduziert. Um vor dem Scheiterhaufen bewahrt zu bleiben, widerruft Meister Eckhart 1327 vorsorglich öffentlich seine Thesen. Meister Eckhart stirbt 1328, entweder auf einer Reise an den päpstlichen Hof zu Papst Johannes XXII. nach Avignon oder – kurz nach seiner Rückkehr – in Köln.

Was bedeutet „Seele“ bei Meister Eckhart?

Für die Seele findet Meister Eckhart viele Metaphern. Er nennt sie „Licht“, „Funken“, „Tropfen“, „Strahl der Herrlichkeit Gottes“ oder „kleine Burg“. Für Menschen ist die Seele eine unbezwingbare „Festung“, Gott aber kann in die Seele eindringen, als Lichtstrahl oder als Funke, so wie das Sonnenlicht durch jede kleinste Ritze einer Festungsmauer hindurchscheint. Und dies ist nicht nur notwendig so, sondern auch wünschenswert, denn nur der Anteil der Seele am göttlichen Glanz eröffnet dem Menschen den Zugang zu Gott.

Ziel aller (mystischen) Spiritualität ist die Einheit mit Gott, die unio mystica durch die Geburt Gottes in der Seele. Dass Gott in mir geboren wird, so Eckhart mit Augustinus, daran sei „alles gelegen“ (Quint 1963: 415). Der „Ort“ dieser Geburt ist die Seele des Menschen, genauer: der namelose „Seelengrund“. Die Gottesgeburt vollzieht sich durch mystische Erfahrung, was bei Meister Eckhart ein Erkennen Gottes meint. Um Erkennen zu können, müssen die Sinne des Erkennens ledig sein von allem, „leer werden“, auch vom Gegenstand des Erkennens. Die Seele, in der die Erkenntnis Gottes stattfinden soll, muss also „leer werden“ von Gott und gleichsam für Gott. Der Mensch, so Eckhart, muss „um Gottes Willen“ von Gott selbst lassen. Kurt Flasch stellt hier die Verbindung von aristotelisch-averroistischer Intellekttheorie und eckhartscher Seelenkonzeption heraus. In seinem Kommentar zu De anima hatte Averroes Bilder für die Negativität des Intellekts entwickelt, die, so Flasch, später erst von Dietrich von Freiberg und dann von Meister Eckhart aufgegriffen wurden: Entblößtsein, Leersein, Nacktsein, Farblos-Sein (Flasch 2006: 62). Bei diesem führt das dann zum Schlüsselbegriff Gelassenheit: „Die Ethik der Gelassenheit realisiert, daß der Intellekt ,entblöst’ ist, denudatum, daß er, wie Anaxagoras, Aristoteles und Averroes sagen, nichts von allem sein darf, um alles zu erfassen. Indem der Intellekt nichts hat, hat er das gesamt Sein.“ (Flasch 2006: 114). Gott aber ist für Eckhart das gesamte Sein (die geschaffene Welt besitzt von sich aus kein Sein, sondern verhält sich wie ein Akzidens zur Ursubstanz, also: zu Gott). Um dieses Sein erfassen, also: erkennen, zu können, muss die Seele „ledig“ sein. Oder: Um zu Gott zu gelangen, muss man gelassen haben und folglich gelassen sein.

Gelassen zu Gott – wie geht das?

Gelassenheit ist ein Modewort unserer Zeit. Es ist im Trend, locker, ruhig, entspannt, „cool“ zu sein bzw. sein zu wollen. Das Wort Gelassenheit leitet sich her vom mittelhochdeutschen gelâzenheit, einer Wortschöpfung Meister Eckharts. Dass Meister Eckhart den Begriff gelâzenheit entwickelt hat, legt der Umstand nahe, dass er vor ihm nicht belegt ist. Damit ist klar, dass es beim Gelassenheitsbegriff nicht nur um Coolness geht, sondern um tiefe Religiosität und Spiritualität. Tatsächlich ist der Begriff für Meister Eckhart zentral gewesen, sowohl hinsichtlich seiner Theologie der Erlösung durch den mystischen Stufenweg hin zur Einheit mit Gott, als auch in der Autoapplikation des Konzepts, denn Gelassenheit wird nötig gewesen sein, um angesichts von Denunziation und Verfolgung mit unveränderter Beharrlichkeit den Predigtdienst zu verrichten.

Bevor ich auf das eckhartsche Konzept der Gelassenheit eingehe, möchte ich einen Blick in die Begriffs- und Ideengeschichte werfen, denn vor der Wortschöpfung durch Meister Eckhart wurde der Begriff Gelassenheit in seinen Facetten umkreist, die später das Gerüst der Konzeption bilden, aber ihren semantischen Kern – zumindest in der Ausdeutung bei Meister Eckhart – nicht zu treffen vermögen.

Demokrits euthymia (gutes Gemüt)

Der griechische Philosoph Demokrit (460-371 v. Chr.) gilt als Vertreter eines atomistischen Materialismus. Er vertrat die Ansicht, dass die Materie aus kleinsten, unteilbaren Teilchen, den Atomen, zusammengesetzt sei. Jedes dieser Atome sollte fest und massiv, aber nicht gleich sein, weil die Dinge auch nicht gleich sind. Aus diesen Verschiedenheiten ließen sich alle Mannigfaltigkeiten der Erscheinungswelt erklären. Entscheidend ist der Analogieschluss von der sichtbaren auf die unsichtbare Welt: Auch die Seele ist bei Demokrit eine Ansammlung von Atomen, d. h. etwas Körperliches. Diese Seelen-Atome seien dabei die vollkommensten Atome, die man finden könne. Man solle sich daher mehr um die Seele als um den Körper kümmern, also mehr um den „Seelen-Körper“ als um den „Körper-Körper“, denn die Vollkommenheit jenes richtet die Schwäche dieses auf. Wer die Gaben des ersten liebe, liebe das Göttliche, wer die des zweiten liebe, das Menschliche. Wenn man sich also um seine Seele kümmert, dann erreicht man in einem Dreischritt jene ruhige Haltung (ataraxia), die das Wohlgemutsein (euthymia) hervorbringt. 1. Die Seele macht Erkenntnis möglich. 2. Erkenntnis führt zur Überwindung von Angst. 3. Überwindung von Angst führt zur Ruhe und zum guten Gemüt.

Senecas tranquilitas animi (Seelenruhe)

Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.) greift den euthymia-Begriff auf und übersetzt ihn mit tranquilitas animi. Er sah die Seelenruhe als oberste Tugend an. Das höchste Gut ist für ihn die Harmonie der Seele mit sich selbst. Seelenharmonie führt bei Seneca zur Seelenruhe. Neben Marc Aurel und Cicero zählt Seneca zu den wichtigsten Vertretern der römischen Stoa. Erwähnenswert ist in diesem Kontext die stoische apátheia als Freiheit der Seele von den Affekten, die damit gleichsam die Voraussetzung für die tranquilitas animi bildet. Besitzt die Vernunft nicht die nötige Stärke, so stimmt sie Vorstellungen zu, die Triebe und Gefühle wider ihr natürliches Maß übersteigern: Der Trieb (hormé) wird zum Affekt, zur Leidenschaft (páthos). Die kranke, leidende Seele ist das „sittlich Schlechte“, das einzige Übel des Menschen. Wer sittlich schlecht handelt, erleidet seelische Qualen und kann damit nicht zur Ruhe kommen. Man beachte: Der schlecht Handelnde hat zunächst selbst das Problem, das Böse fällt auf ihn zurück! Hier ist das christliche Gewissenskonzept nahe. Helfen kann dieser leidenden Seele aus Sicht der Stoiker nur die Philosophie der Stoa, welche gerade das Ziel der Affektlosigkeit verfolgt. Dies erinnert an Schopenhauers Willensverneinung und es steht der Idee einer Überwindung menschlicher Willensschwäche durch geeignete Lebensführung in der christlichen Morallehre nahe. Der Begriff der Affekthemmung sollte dann in der Ethik der Hochaufklärung ein zentraler, etwa bei Christian Wolff. Nach Wolff gelingt die Affekthemmung durch die Tätigkeit der Vernunft und damit durch die Einsicht in das Schlechte und Schädliche, das dem Affektiven eignet. Auch das wird von der Stoa schon vorweggenommen.

Platons theoria und Plotins henosis (göttliche Einigung)

Platons (427-347 v. Chr.) theoria als Ideenschau der Seele, vom Neuplatoniker Plotin (205-270 n. Chr.) zur henosis (göttliche Einigung) erweitert. Die Seele ist in der Lage – wenn sich der Mensch nur bemüht – die Ideen zu schauen, nicht nur deren Abbilder (Höhlengleichnis). In dieser theoria erfährt der Mensch also etwas über diese ontologisch und epistemisch höherwertigen Entitäten und gelangt so durch die Ideenschau in den Zustand des Wissens. Das entscheidende Moment der platonischen theoria liegt in der Wende hin zur Ethik und Ästhetik: Die gewonnenen Erkenntnisse geben einem Menschen nicht nur Einblick in das Wahre, sondern auch in das Gute und Schöne. Wahr, gut und schön fallen zusammen. Daraus entwickelt der Neuplatoniker Plotin seine Idee der henosis, in der das Denken des Einen, zu dem hin alles gewendet ist („Universum“) und als dessen Ausströmung (Emanation) alles ins Dasein gelangt, die Annahme einer Wesensgleichheit von göttlicher und menschlicher Seele impliziert. Erst der Eigensinn des Menschen trennt ihn von Gott. Plotin hat damit stark auf die Patristik (etwa auf Augustinus) gewirkt und so die Lehre der Kirche nachhaltig beeinflusst.

Theoria und henosis nehmen den Transzendenzaspekt des eckhartschen Gelassenheitsbegriffs vorweg. Bei Demokrit und Seneca ist es die irdische „Coolness“, die dem Gelassenen jetzt und hier angesichts von Schwierigkeiten Glück verschafft, sie geben etwa Antwort auf die Frage: Wie halte ich es neben einem Menschen aus, der schwer zu ertragen ist? Bei Platon und Plotin kommt der Gedanke der Einheit mit Gott ins Spiel, hier bekommt die „Coolness“ der stoischen Weisheit in ihrem Nutzen für die menschliche Seele eine neue, eine weiterreichende Dimension. Für den Christen liefert diese erst die Begründung für Gelassenheit. Plotin liefert in gewisser Weise die Motivation – traditioneller gesagt: die Kraft –, um die Unerträglichkeit zu ertragen. Demokrit und Seneca bleiben diese Kraftquelle schuldig, bei ihnen ist Gelassenheit mehr eine Forderung bzw. eine Tugend des Weisen, aber das reicht nicht, denn auch der Weise braucht ein Rückzugsgebiet, wo er seine Seele baumeln lassen kann. Und das wäre eben das Bewusstsein einer Einheit mit Gott.

Aristoteles‘ eudaimonía (geglücktes Leben) und Epikurs galenismós (Meeresstille)

Hinzuweisen ist noch auf die aristotelische eudaimonía (geglücktes Leben) auf Basis der arete (Tugend) des „Maßhaltens“ sowie auf Epikurs galenismós (Meeresstille), der eine zentrale Metapher des Gelassenheits-Topos einführt und ferner den Rückzug ins Private proklamiert, nachdem Platon und Aristoteles nur im zoon politikon, im geselligen Lebewesen, den wahren Menschen erblickt hatten. Der Rückzug ins Private ist sicherlich für die Gelassenheitstechniken der Kontemplation und Meditation wichtig, andererseits ist die Gemeinschaft im Kloster und der Gang an die Öffentlichkeit entscheidend. Das hat Meister Eckhart vorexerziert, wie ich nun darstellen möchte.

Meister Eckharts gelâzenheit (Gelassenheit)

„Gelâzenheit“ – oder neuhochdeutsch: Gelassenheit – ist der zentrale Begriff der Eckhartschen Mystik. Dies, obwohl Meister Eckhart das Substantiv gelâzenheit nur an einer Stelle verwendet, und zwar in der Rede der underscheidunge, wo es heißt: „Wan, ez kome von trâcheit oder von wârer abegescheidenheit oder von gelâzenheit, sô sol man merken, ob man sich hier inne vindet, als man sô gar von innen gelâzen ist“. Wesentlich häufiger benutzt er das Verb lâzen bzw. das Partizip gelâzen. Als wichtigste Voraussetzung für die Gottesgeburt in der Seele und die Einheit mit Gott, die unio mystica, muss der Mensch gelâzen hân, um schließlich gelâzen zu sîn. Er muss dazu verdinglichte Denk- und Handlungsstrukturen überwinden und alle Weltbindung aufgeben. Er muss sich selbst und die ganze Welt lâzen. Insoweit ist Gelassenheit bei Meister Eckhart als Haltung oder Befindlichkeit das Ergebnis eines bewussten Handlungsvollzugs.

Meister Eckharts Ausgangspunkt ist das neutestamentliche Lassen, das omnia relinquere, von dem im Evangelium bei der Berufung der ersten Jünger die Rede ist (Mt 4, 18-22). Hier zeigt sich deutlich die Breite des Verlassenheitsbegriffs. So erscheint er teils negativ (im Stich lassen), teils positiv besetzt (den Neuanfang wagen), teils materiell (Haus und Hof, Dinge lassen), teils personell (den Vater, die Mutter, die Frau, den Mann lassen) und schließlich – in der Mystik Meister Eckharts – spirituell (sich selbst lassen). So gelangt der Mensch über das Lassen zur Gelassenheit.

Mit seiner Wortschöpfung gelâzenheit stellte Meister Eckhart der deutschen Sprache ein Konzept zur Verfügung, das die Vielschichtigkeit eines Sachverhalts anzeigt, in dem Ruhe, Versenkung, Anbetung, Demut, Hingabe und Weisheit mitschwingen und welcher schließlich in der Erfahrung der Einheit mit Gott kulminiert. Es wird deutlich, dass er mit diesem Begriff den semantischen Wert der lateinischen Ausdrücke resignatio und tranquilitas ebenso sprengt wie den der griechischen Begriffe euthymia und henosis. Diese Begriffe kreisen den viel komplexeren Begriff der Gelassenheit nur ein, ohne seinen Kern zu treffen und ohne seine semantische Dichte und Fülle vollständig zu erschließen. Das gelingt erst mit der eingedeutschten Form der Konzepte, die all diese Nuancen vereint, denn Gelassenheit beinhaltet sowohl das Aufgeben und Loslassen (resignatio), die Ruhe (tranquilitas) als auch ein gutes Gemüt (euthymia) sowie schließlich die Einheit mit Gott (henosis), die Meister Eckhart zur unio mystica weiterdenkt. Gelassen gelangt der Mensch zu Gott – und nur so!

Und heute? Gottesbilder – und die Gottheit

Bei Meister Eckhart führt die Fokussierung auf den Begriff der Gelassenheit allerdings am Ende zur Übersteigerung des Konzepts, wenn er fordert, nicht nur von den weltlichen Dingen und Geschöpfen sowie von sich selbst zu lassen, um die mystische Einheit mit Gott zu erreichen, sondern schließlich sogar „um Gottes Willen“ und „durch Gott“ von Gott selbst: „Daz hoehste und daz naehste, daz der mensche gelâzen mac, daz ist, daz er got durch got lâze.“ Eine Radikalität des Verständnisses von Gelassenheit, die zum Häresieverdacht gegen Meister Eckhart führte und von seinen Epigonen (Johannes Tauler, Heinrich Seuse) zurückgewiesen wurde.

Was Eckhart meint, ist wiederum hochmodern (und wird heute auch weit besser verstanden als zu seiner Zeit): Bestimmte Gottesvorstellungen aufzugeben, das ist nötig, um zur Gottheit selbst zu gelangen. Nur mit diesem Gott an sich, wie Kant sagen würde, ist Einheit möglich und erstrebenswert, nicht jedoch mit menschengemachten Gottesbildern, die eher Götzen gleichen. Das ist eine Idee, die durchaus mystisch genannt werden kann, den sie sprengt konfessionelle Grenzen, ohne von Gott selbst abzusehen und sich in bloße Esoterik zu verflüchtigen. Meister Eckharts Mystik ist zutiefst christliche Mystik, seine Gelassenheit ist die des Christen, der in der Nachfolge Christi alles das zurücklässt, das ihn an der Einheit mit Gott hindert.

Literatur

Flasch, K.: Meister Eckhart. Die Geburt der „Deutschen Mystik“ aus dem Geist der arabischen Philosophie. München 2006.

Fraling, B.: Gelassenheit. In: P. Dinzelbacher (Hrsg.): Wörterbuch der Mystik. Stuttgart 1989.

Panzig, E.: Gelâzenheit und abegescheidenheit. Eine Einführung in das theologische Denken des Meister Eckhart. Leipzig 2005.

Quint, J.: Meister Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate. München 1963.