Wissenschaft und Barmherzigkeit. Ein Bild von Picasso

Heute vor 45 starb Pablo Picasso.

Im Picasso-Museum von Barcelona – in dem vor allem Werke aus der Jugendzeit des berühmten Künstlers ausgestellt sind – hängt ein frühes Bild Picassos, das der damals gerade 15jährige Maler Ciencia y caridad („Wissenschaft und Barmherzigkeit“) nannte. Es zeigt eine kranke Frau, der ein im Vordergrund sitzender Arzt den Puls fühlt, während ihr eine im Hintergrund stehende Ordensschwester mit einem Kind auf dem Arm einen Becher reicht.

Pablo Ruiz Picasso: Ciencia y caridad (1897), Öl auf Leinwand, 197 x 246,5 cm – Museu Picasso de Barcelona.

Der Wissenschaftler misst, erhebt exakte Daten, die Rückschlüsse auf Zustände und Befindlichkeiten einschließlich nötiger Prognosen – auf der Basis theoretischer Modelle –ermöglichen. Der Arzt im Vordergrund misst den Puls. Er wirkt konzentriert und sachlich. Die Ordensschwester sorgt unterdessen für Erfrischung. Gleichzeitig kümmert sie sich um ein Kind. Die liebende Sorge für jung und alt, für gesund und krank, gegenüber Menschen in gleich welcher Verfassung ist Kern der Barmherzigkeit. Auch sie wirkt konzentriert, fast streng: caritas ist nicht amor, Liebe kein Gefühl. Die Ordensschwester steht für die christliche Religion und ihre Werte, von denen die tätige Nächstenliebe der wichtigste ist.

Für die kranke Frau ist beides gut: Ohne das Wissen um die Krankheit lässt sich die Patientin nicht heilen, doch ohne Nahrung und liebevolle Zuwendung wird sie auch nicht gesund.

Ich glaube nicht, das Bild wäre so zu verstehen, dass Picasso etwa meinte, man sei entweder Wissenschaftler (hier: Arzt) oder barmherzig (hier: Ordensschwester), dass es mithin keine liebevollen Ärzte und keine kompetenten Ordensschwestern gäbe, sondern er spricht wohl allegorisch die beiden Seiten gelungener Daseins- und eben auch Leidensbewältigung an. Das heißt: Um die Krankheit zu besiegen, braucht es beides – Expertise und liebevolle Betreuung. Allgemein gesprochen: Um das Leben und das Leiden zu bewältigen, braucht es beides – Wissenschaft und Religion.

(Josef Bordat)