Die Sache mit den 97 Prozent

Ich habe keine Ahnung von Klimatologie. Deswegen bin ich auf Einschätzungen von Klimatologen angewiesen, wenn es um die Beurteilung von Aussagen zum Klimawandel geht. Das vorab.

Ich hatte letzte Nacht einen seltsamen Traum. Ich war auf einer einsamen Insel gestrandet, als einziger Überlebender eines gesunkenen Kreuzfahrtschiffs (21 Tage Karibik, 899 Euro). Auf der Insel wurde ich von den Bewohnern gefangen genommen und der Königin vorgestellt. Diese wollte mich töten lassen, es sei denn, ich beantwortete ihr eine Frage: „Was ist Schlupp?“ – „Keine Ahnung!“, wollte ich sagen, erinnerte mich aber an die Unternehmensberater und Marketingmanager auf dem Kreuzfahrtschiff und sagte: „Da bin ich momentan leider etwas überfragt, halte das aber für eine entscheidende Frage. Vielen Dank für den Input! Ich werde das schnellstmöglich in Erfahrung bringen.“ – „Tu das!“ Ich bekam 24 Stunden Zeit.

Ich erfuhr, dass die Bewohner die Frage „Was ist Schlupp?“ schon seit langem erforschen und dabei immer wieder zu Ergebnissen kommen, die sie in „Intern. Insel International“ veröffentlichen. Also fragte ich jeden einzelnen von ihnen, was das wohl sei: „Schlupp“. Es waren genau 100 Bewohner auf der Insel. 97 sagten mir: Schlupp sei „gik“, höchstwahrscheinlich „gik“, nach allem, was wir wissen: „gik“. Drei meinten: „Lass Dich nicht irre machen! Dass Schlupp ‚gik‘ ist, das ist längst nicht bewiesen! Schlupp könnte auch ‚gok‘, ‚gek‘, ‚guk‘ oder ‚gak‘ sein! Also, wenn Du leben willst – sag auf keinen Fall ‚gik‘, hörst Du?! Denn dafür gibt es keinen einzigen Beweis!“ Bevor ich der Königin antworten konnte, klingelte der Wecker.

Sie ahnen, worauf ich hinaus will? Genau: Wenn man gar keine Ahnung hat und in Zukunft trotzdem leben will, ist es rational, sich der Mehrheit anzuschließen, auch, wenn „Mehrheit“ nicht gleichbedeutend ist mit „Wahrheit“. Denn es geht dann nicht mehr um Beweise, sondern um Plausibilitäten und Wahrscheinlichkeiten. Damit wären wir also wieder beim Thema: Klimawandel – und dessen Ursachen.

Noch einmal: Das eine ist das Beurteilen eines naturwissenschaftlichen Sachverhalts. Da spielt „Mehrheit“ keine Rolle. Das Andere – und nur darum soll es jetzt gehen – ist die Beurteilung verschiedener wissenschaftlicher Beurteilungen. Eine solche nimmt man vor, wenn man für eine eigene wissenschaftliche Beurteilung nicht die Zeit oder die Mittel hat. Dann spielt es schon eine Rolle, ob eine These oder Theorie von 97 Prozent, von 3,6 Prozent oder von 0,02 Prozent der Forscher vertreten wird.

97 Prozent der Klimatologen stützen den wissenschaftlichen Konsens im Hinblick auf den menschengemachten Klimawandel. Das ergab eine Studie des Klimakommunikationsforschers John Cook von der Universität of Queensland (Brisbane). Cook und mehrere Mitautoren hatten nach umfangreichen Recherchen 2013 festgestellt, dass 97 Prozent der von Klimaforschern verfassten wissenschaftlichen Studien darin übereinstimmen, dass die globale Erwärmung hauptsächlich menschengemacht ist.

Es gibt Zweifel an der 97-Prozent-These. Stellvertretend dafür sei der Artikel „Der 97-Prozent-Mythos“ von Alex Baur genannt, erschienen in: Die Weltwoche, Nr. 12 (2019) vom 21. März. Darin bezichtigt Baur die Studie Cooks methodischer Mängel. Baurs Text ist jedoch selbst nicht ganz frei von methodischen Schwächen. So enthält er unredliche Vergleiche, etwa den zum 99-Prozent-„Konsens“ bei Wahlen in der DDR, an dem ja auch einiges faul gewesen sei. Richtig, nur: Die globale Forschung zum Klimawandel mit einem Zwangssystem wie in der DDR zu vergleichen, wo ja der Konsens keiner aus Überzeugung oder gar nach getaner Forschungsarbeit war, sondern einer aus Repression und Angst, schwächt im Ergebnis eher seine Argumentation, als sie zu stärken. Ferner beharrt der Text auf der Kategorie des „Beweises“. Baur schreibt: „Tatsächlich wären auch 100 Prozent Einhelligkeit noch kein Beweis“. Richtig, nur: Es gibt für synthetische Aussagen keine „Beweise“. Die gibt es – streng genommen und unter der Annahme, dass nichts gelten darf, was gegen logische Gesetze verstößt – nur für analytische Aussagen. Und selbst daran könnte ich zweifeln. Also, ganz klar: 97 Prozent Zustimmung ist kein Beweis. Drei Prozent Nicht-Zustimmung ist aber auch kein Gegenbeweis.

Es gibt aber auch Zweifel am Zweifel an der 97-Prozent-These. So gibt es wohl eine Metastudie aus 2016, die Cook et al. (2013) untermauert: „Die neue Untersuchung bestätigt eine von Klima‚skeptikern‘ häufig angezweifelte Studie des Klimakommunikationsforschers John Cook. […] Wenig überraschend und auch nicht neu ist ein weiteres Ergebnis der Metastudie: Der Konsens nimmt zu, je mehr Fachkompetenz die Autoren in der Klimaforschung haben und je aktiver sie dort sind. Gemessen wird das an der Zahl der begutachteten Veröffentlichungen in anerkannten Fachjournalen. Nimmt man diese ‚obere‘ Klasse von Forschern für sich, liegt die Übereinstimmung, dass der Klimawandel vorrangig anthropogene Ursachen hat, sogar bei fast hundert Prozent.“ Die Zeitschrift „Geo“ spricht sogar von „mehreren Studien“, die die 97-Prozent-These Cooks bestätigen.

Natürlich kann man jetzt auch den Zweifel am Zweifel an der 97-Prozent-These bezweifeln. Das nennt man Diskurs. Ich jedenfalls bin auf diesen wissenschaftlichen Diskurs angewiesen, den ich bequem am Schreibtisch rezipieren kann. Und da geht es um Plausibilität, Wahrscheinlichkeit und damit auch um Mehrheitsverhältnisse, um zu Handlungsmotiven zu gelangen. Und darum geht es ja im Leben.

(Josef Bordat)