Noch ein bisschen größeres Armutszeugnis

Oder: Was mir gerade noch zu Kardinal Müller einfällt

Es geht fast nicht, aber es ist doch passiert: Nach Unterzeichnung des Viganò-Manifests, das sich von den handelsüblichen Pamphleten der Impfgegner und NWO-Verschwörungstheoretiker, der Corona-Leugner und sonstiger regierungskritischer Reichsbürger nur durch eine stellenweise etwas salbungsvollere Wortwahl unterscheidet, hat Gerhard Ludwig Kardinal Müller seine Unterschrift öffentlich verteidigt. In der Tagespost erschienen einige Auszüge aus seiner Stellungnahme. Zugegeben: Es bleiben Fragen offen. Vielmehr: Ich habe den Eindruck, hier geht jemand bei dem Versuch, sich frei zu schwimmen, immer mehr und immer offensichtlicher baden. Der Reihe nach, fünf Punkte.

1. Den Text habe er, Kardinal Müller, nicht als wissenschaftliche Analyse bewerten wollen, heißt es.

Das ist schön. Nur ist es ein Text, der sich mit einer Frage befasst, die gerade deshalb im Bereich wissenschaftlicher Expertise liegt, weil sie sich nur im Rahmen wissenschaftlicher Analysen sinnvoll beantworten lässt. Deswegen gibt hierzulade etwa das Robert-Koch-Institut die Richtung vor und nicht der Platzwart der Sportfreunde Hamminkeln. Deswegen schaut man in Fachzeitschriften und nicht auf die Rückseite von Cornflakespackungen, wenn man etwas über ein wissenschaftliches Thema in Erfahrung bringen will. Ergo: Jeder, der sich zu Corona äußert, wird zwangsläufig im Diskurs am Stand der Wissenschaft gemessen. Das muss doch klar sein. Vielleicht ist das aber auch der Kern des eigentlichen Problems: Dass einem egal ist, ob auch nur annähernd wahr ist, was man unterstützt, wenn es nur den eigenen Zielen dient. Vermeintlich, zumindest.

2. „Es wird so hingestellt, als ob die Pandemie selbst erfunden wäre, um Panik zu machen, was ja absurd ist“.

Das habe ich noch nirgendwo gefunden. Das ist auch gar nicht nötig, so etwas auch noch zu unterstellen. Es gibt genug anderen Unfug, wie etwa die Sache mit der „Eine-Welt-Regierung“, die der „unsichtbare Feind“ plant. Die sind allerdings erfunden (beide). Und absurd ist es auch.

3. „Natürlich haben interessierte kirchliche Kreise diesen Viganò-Text benutzt, um daraus Empörungskapital gegen ihre vermeintlichen Gegner zu schlagen.“

Oh, da hat aber jemand das Nullsummenspiel der Feindbildlogik verinnerlicht. Im Fußballstadion würde man bei so viel Unfairness jetzt rufen: „Scheiß Verlierer!“ – Aber, es ist natürlich klar: Nur die, die immer schon gegen Kardinal Müller waren, die Progressiven und Reformer usw., melden sich jetzt zur Stelle. Eher konservative katholische Christen, denen die Kirche heilig ist, schweigen natürlich brav. Nein, Herr Kardinal, die Grenze verläuft hier nicht zwischen links und rechts, sondern zwischen vernünftig und Viganò.

4. „Jeder nennt jetzt jeden Andersdenkenden Verschwörungstheoretiker“.

Der Unterschied zwischen einem Andersdenkenden und einem Verschwörungstheoretiker ist der, dass der Andersdenkende immer noch denkt, dass man sich also mit ihm in rationaler Form verständigen kann. Wenn man sich etwa darüber einig ist, dass „rot“ und „blau“ Farben sind, also Licht bestimmter Wellenlänge, dann kann man die Differenz zwischen roter und blauer Wahrnehmung besprechen. Aber das setzt eben das Teilen von Grundannahmen voraus. Diese geteilten Annahmen werden in dem Viganò-Manifest aber gerade vehement aufgekündigt.

5. „Es ist falsch, immer alles zu polarisieren. Wer es besser weiß, kann doch mit sachlichen Argumenten wirkliche oder vermeintliche Irrtümer ruhig und gelassen richtig stellen.“

Ja, das sehe ich grundsätzlich auch so. Das Problem ist nur, dass man Schwachsinn nicht widerlegen kann. Einen „unsichtbaren Feind“ kann man bequem behaupten, die Eigenschaft unsichtbar immunisiert hinreichend gut gegen jede Kritik. Damit positioniert man sein Postulat aber auch außerhalb dessen, was man rationalen Diskurs nennt, also das System, in dem man sachliche Argumente austauscht und vermeintliche (sogar tatsächliche) Irrtümer ruhig und gelassen richtig stellt. Aber so? Man kann es nicht ernst nehmen.

Das Manifest war dumm und ärgerlich. Es zu unterstützen, passt sich dem Niveau zwangsläufig an. Eine Rechtfertigung dieser Unterstützung kann nun nicht plötzlich von intellektueller Brillanz strotzen und dazu auch noch sympathisch sein. Das war mir schon vor Lektüre der Stellungnahme klar. Doch für das, was Kardinal Müller dabei in epistemischer und ethischer Hinsicht abliefert, wäre ich als Achtjähriger drei Wochen in den Keller gesperrt worden. Und zwar völlig zu Recht.

(Josef Bordat)