Drei Irrwege im Klimaschutz – Teil 2

Nicht alle Ideen zum Klimaschutz sind moralisch gut – zumindest aus Sicht der Kirche bzw. der katholischen Ethik. Ich möchte drei Irrwege nennen.

„Atomenergie länger nutzen!“

Die Atomenergie erlebt in Zeiten des Klimawandels eine Art „Revival“. Einige EU-Staaten bezweifeln, dass sich das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 ganz ohne Atomstrom realisieren lässt. Bill Gates investiert mit seiner Firma TerraPower in Atomkraft.

Sogar eine unverdächtige Person aus dem Bereich des Umweltaktivismus‘ wie Patrick Moore, Mitbegründer von Greenpeace, meint, wir bräuchten Atomkraft für den Klimaschutz. Moore fällt jedoch in letzter Zeit vor allem durch eigentümliche Positionen auf, die einen Bruch mit der Umweltbewegung bedeuten. Dass Moore Greenpeace mitbegründet hat, bestreitet die Umweltorganisation übrigens: „Moore bezeichnet sich selbst häufig als Gründer oder Mitbegründer von Greenpeace. Viele Nachrichtenagenturen haben diese Darstellung übernommen und weiterverbreitet. Obwohl Moore mehrere Jahre eine bedeutende Rolle bei Greenpeace Kanada spielte, hat er Greenpeace nicht gegründet. Phil Cotes, Irving Stowe und Jim Bohlen haben Greenpeace im Jahr 1970 gegründet. Patrick Moore beantragte einen Platz auf der ‚Phyllis Cormack‘ im März 1971, nachdem die Organisation bereits seit einem Jahr existierte“.

In einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit sagte er 2010: „Die Atomkraftwerke abschalten zu wollen, ist nicht nur unverantwortlich, wenn man sich die Energieversorgung anschaut. Auch was die Senkung der Kohlenstoffdioxidemissionen angeht, ist es falsch“. Moors Positionierung blieb freilich nicht unwidersprochen. Tatsächlich: Atomenergie ist aufgrund geringerer Emissionswerte klimafreundlich. Wie sehr, ist umstritten. Manfred Fischedick vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie hält den Beitrag der Atomkraft zum Klimaschutz für überschaubar. Doch eins steht fest: Aufgrund des Risikos von Strahlungsaustritt ist Atomkraft hochgefährlich.

Zudem: Das Müll-Problem ist ungelöst. Bis 2010 hat die zivile Nutzung der Atomkraft weltweit insgesamt bereits 300.000 Tonnen radioaktiven Abfall verursacht. Die Endlagerung des Atommülls ist nicht sicher, von „Entsorgung“ kann also keine Rede sein. Der Abfall wird noch „die nächsten 100.000 Jahre über Strahlen“ (Tatjana Alisch: Klimawandel. Klimaschutz. München 2008, S. 100) und niemand kann heute sagen, welche Folgen das haben wird. Es gibt derzeit noch überhaupt kein Endlager für den Atommüll, es gibt nur „Zwischenlager“.

Ignorieren wir Risiko und Müllproblem für den Moment und schauen uns den „Hoffnungsträger“ Atomkraft genauer an. Auch die Atomenergie ist auf Ressourcen angewiesen, auf Uran. Die Uranvorkommen sind endlich, sie reichen aber immerhin noch etwa 200 Jahre. Es gibt weltweit etwa 400 Reaktoren, die vier Prozent der benötigten Primärenergie erzeugen. Zu 80 Prozent wird die Erzeugung der global erforderlichen Primärenergie mit fossilen Brennstoffen (Kohle, Öl und Gas) bewältigt. Das würde bedeuten, man müsste das 20-fache an Kernkraftwerken bauen, um den Bedarf decken zu können. Das würde die Ressourcen nach wenigen Jahrzehnten erschöpfen.

Allerdings wäre das nur der Fall, wenn die Reaktoren der Zukunft ebenfalls mit Uran 235 betrieben würden. Könnte man auf das sehr viel häufiger vorkommende Uran 238 umsteigen, wären die Ressourcen praktisch unbegrenzt. Ein neuer Reaktortyp leistet dies: der Laufwellenreaktor. Bei diesem wird jedoch flüssiges Natrium als Kühlstoff verwendet, das, durch menschliche Entscheidungen situativ gesteuert, in den Kühlkreislauf eingebracht wird – das ist ein fehlerbehaftetes Verfahren mit einem hochgefährlichen Stoff; Natrium ist leicht brennbar und reagiert heftig, wenn es mit Wasser in Berührung kommt. Damit wären wir wieder beim Risiko.

Und der Müll? Der wird bleiben bzw. langfristig immer weiter zunehmen – bei ungelöstem Lagerproblem. Doch auch da gibt es eine technische Innovation, die möglicherweise Abhilfe schafft: der Flüssigsalzreaktor. Der soll nicht nur sicher sein und keinen Abfall mehr produzieren, sondern auch den alten schlucken. Was sich wie ein mittelgroßes Wunder anhört, könnte in der Phantasie der Entwickler verbleiben, denn es gibt für einige Konstruktionsanforderungen (etwa korrosionsresistente Materialien für Rohrleitungen) noch keine überzeugende Idee.

Laufwellen- und Flüssigsalzreaktoren existieren bisher nur auf dem Papier (oder in der Computersimulation). Gebaut wurde noch keines der neuen Kraftwerkstypen. Ob das ökologisch so sinnvoll wäre, ist sehr umstritten. Auch ökonomisch wäre ein Verbleib bei oder gar ein Ausbau der Atomkraft ein Irrweg: Wir haben hohe (und steigende) Kosten pro KWh (etwa 13 Cent), während erneuerbare Energie niedrige (und sinkende) Kosten aufweisen (Windenergie: 4 bis 10 Cent, bei ungünstigen Standorten der Anlagen „bis zu 13,79 Cent“; Solarenergie: 3 bis 12 Cent); bezieht man externe Effekte (also: Umweltkosten) mit ein, sieht die Bilanz noch schlechter aus.

Also: Kernkraft hat gravierende Schattenseiten. Auch dazu gibt Robert Spaemann die nötige ethische Orientierung. Seit Jahrzehnten wendet sich der Philosoph gegen die Nutzung der Kernenergie. Aus Gründen des Lebensschutzes. Seine frühen Aufsätze zum Thema – Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik (1979) und Ethische Aspekte der Energiepolitik (1980) entstehen in einem geistigen Ambiente wachsender Sensibilität für Fragen des Natur- und Umweltschutzes: 1979 erscheint Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung, im gleichen Jahr gründet sich in Deutschland eine neue Partei – Die Grünen. In dieser Zeit werden die Folgen der Endlichkeit fossiler Brennstoffe diskutiert, und das Atom schien eine günstige, saubere und praktisch endlos verfügbare Quelle für Licht und Wärme zu sein. Spaemann gehört von Beginn an zu den Bedenkenträgern – mit einer bestechend klaren Argumentation, die philosophische und theologische Ideen in ihrer abstraktesten und allgemeinsten Form aufnimmt und überzeugend anwendet.

Spaemanns These lautet: „Wir haben nicht das Recht, über die Gefahren hinaus, die der Natur innewohnen – Erdbeben, Vulkanausbrüche, Wirbelstürme usw. –, durch unsere Transformation von Materie zusätzliche Gefahrenquellen in unseren Planeten einzubauen“ (Robert Spaemann: Nach uns die Kernschmelze. Hybris im atomaren Zeitalter. Stuttgart 2011, S. 39). Was für die Atomenergie gilt, das gilt ohne jeden Zweifel aber gleichermaßen für Kohle, Öl und Gas: Auch hier findet eine „Transformation von Materie“, die geeignet ist, „zusätzliche Gefahrenquellen in unseren Planeten einzubauen“. Das alleine kann es also nicht sein. Spaemann legt nach und begründet auf der Höhe des technik- und umweltethischen Diskurses, immer wieder auf Carl Friedrich von Weizsäcker rekurrierend, warum er die Kernenergie für prinzipiell lebensfeindlich hält: Ihr Funktionieren basiere auf Zerstörung, ihr wohne gleichsam der Tod bereits konstitutiv inne: „Es ist nicht von ungefähr, dass die erste Nutzung der Kernenergie ein Massenmord war, der Massenmord an den Bewohnern von Hiroshima und Nagasaki“ (Kernschmelze, S. 8). Die Entfesselung der Kernenergie in der Atombombe sei der „Anfang des Unfriedlichen“ dieser Energie überhaupt, so dass die Rede von der „friedlichen Nutzung“ nur Augenwischerei bedeute, um an dieser Lebensfeindlichkeit vorbeisehen zu können (Kernschmelze, S. 10). Spaemann hält die Kernspaltung für ein Phänomen, dessen Kraft wir in erster Linie deswegen ungenutzt lassen sollten, weil wir sie nicht beherrschen. Auch wenn die Technologie das Risiko einer unkontrollierten Entfaltung von Atomenergie minimieren kann, wird es nie gleich Null. Und erst dann wäre eine Nutzung zu verantworten, denn man verwette nicht das Leben seiner Kinder, so Spaemann, auch nicht wenn die Gewinnchance bei 99:1 läge (Kernschmelze, S. 8).

Ein wichtiges Anwendungsgebiet dieser Ideen im Kontext der Kernenergie ist der Diskurs um die „Zumutbarkeit der Nebenwirkungen“ (Kernschmelze, S. 14-27). Dazu gehören die Risiken eines GAUs ebenso wie das (nach wie vor ungelöste) Problem der Lagerung des Atommülls. Hier argumentiert Spaemann mit dem moraltheoretischen Begriff Zweck (der eben die Mittel nicht heiligt) und dem handlungstheoretischen Begriff Verantwortung (die hier generationenübergreifend zum Tragen kommt). Er betont, dass jeder Mensch nur insoweit handeln kann, „als andere zuvor ihm nicht seinen Handlungsspielraum durch exzessive Ausdehnung des ihren genommen haben“ (Kernschmelze, S. 25; hier klingt deutlich Jonas‘ „Imperativ des Gattungslebens“ an) und wir, die wir heute leben, nicht das Recht haben, „unsere augenblicklichen Wertschätzungen, also das, was uns wichtig erscheint, zum Maßstab dafür zu machen, was wir künftigen Generationen als natürliches Erbe hinterlassen“ (Kernschmelze, S. 33). Was das im Fall der Kernenergie bedeutet, liegt auf der Hand: Billiger und CO2-emissionsarmer Strom heute ist angesichts der Hypothek für die Zukunft nicht gerechtfertigt. Wenn die Atomkraft eine „Brückentechnologie“ sei, dann müsse man diese Brücke „so schnell wie möglich überqueren, und das auch unter einschneidenden Opfern an Geld und Wohlstand“ (Kernschmelze, S. 8).

Spaemann hatte immer wieder dazu aufgerufen, die Reaktoren abzuschalten. Nicht wegen Tschernobyl, nicht wegen Fukushima, nicht aus ideologischen Gründen, nicht um Wähler zu gewinnen, sondern allein aus einem einzigen Grund, den er über 50 Jahre lang immer wieder vortrug: „Weil wir die Technologie nicht beherrschen“ (Kernschmelze, S. 101) – Punkt.

(Josef Bordat)